Rede von Eckhardt Wendler zur Ausstellungseröffnung
Rathausgalerie in Fröndenberg-Ruhr — 2015


Meine sehr verehrten Damen und Herren,

die Malerin Petra Ultsch, die ab heute hier ihre Bilder zeigt, sagt von sich in einem kurzen Text, den sie an das Kulturbüro geschickt hat, dass sie Landschaften, figurative Bilder und Stillleben malt, dass jedoch ihre Stilrichtung abstrakt sei. Diese Aussage ist ein wenig rätselhaft, und rätselhaft ist ihre Kunst. Und das ist gut so, denn gute Kunst ist immer rätselhaft. Wenn wir Landschaft, Stillleben und Figur hören, dann erwarten wir, dass wir solche Motive auf Anhieb erkennen. Und wenn wir das Wort „abstrakt“ hören, sollten wir wissen, dass wir nichts aus der uns umgebenden Welt abgebildet finden. Unter „abstrakt“ versteht die heutige Wissenschft „gegenstandslos“ und meint damit, dass keine Gegenstände der sichtbaren Welt abgebildet sind.

Ich habe mich leichtsinnigerweise angeboten, auf Petras Vernissage ein paar einführende Worte zu sprechen. Und stehe jetzt vor dem Dillemma, dass Rätsel, das sich uns stellt, wenigstens annähernd zu lösen.

Eigentlich ist es nicht möglich, ein Bild restlos zu erklären. Man kann nur versuchen sich anzunähern. Bildsprache ist eben etwas ganz anderes als Wortsprache. Glücklicherweise hat Petra in ihrem Text noch einen wesentlichen Gedanken hinzugefügt. Sie spricht von einer „R e i s e“ und von „dem Experiment mit Farben, die in Formen gelenkt werden“. In der Tat ist der künstlerische Prozess eine Reise. Man hat ein Ziel, tritt die Reise an und dann geschehen Dinge, die zu Änderungen der Route führen und möglicherweise sogar ein neues Ziel escheinen lassen.

Der große Künstler Willi Baumeister, der als abstrakter Maler in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts berühmt wurde, hat in seinem Buch „Das Unbekannte in der Kunst“ von einem „Scheinziel“
gesprochen und von einem Arbeitsergebnis, das u.U. ganz stark von jenem Scheinziel abweicht. Er erläutert diesen Vorgang mit einem Satz aus der Bibel: „Saul zog aus, die Eselinnen seines Vaters zu suchen und fand ein Königreich.“

Das wahre Ergebnis des Prozesses ist also viel mächtiger als das, was man sich da als Ziel vorgestellt hatte. Möglicherweise hat Petra beim Beginn ihrer Arbeit zu einem Bild eine vage Vorstellung, wohin sie will. Ich nehme aber an, dass sie gelegentlich oder sogar häufig einfach mit dem Malen beginnt und etwas entstehen lässt. Und dann ereignet sich das, was sie eine Reise nennt. Der bildnerische Prozess ist ein Geschehen aus ständiger Aktion und Reaktion. Es entsteht etwas auf der Bildfläche — manchmal unbewussst —, das wiederum zu einem neuen Schritt anregt, der seinerseits zu einem neuen Ergebnis führt. Das ist im Wesentlichen der schöpferische Prozess.

Natürlich beherrscht die Künstlerin die technischen Voraussetzungen für diesen Vorgang, z.B. das Malen mit Ölfarben. Sie hat ein ausgereiftes Gefühl und Wissen von den Wirkungen und dem gestalterischen Wert der Farben: Welche Bedeutung haben Farbintensität und Farbreinheit im Vergleich zu gebrochenen Farben? Wie erreiche ich den gewünschten Farbton durch Mischung? Wie ist es mit Nuancen, mit Harmonie und Kontrast? Wie erreiche ich eine lebendige Struktur und eine ausgewogene Komposition etc.. Hinter alldem steckt natürlich ein intensives und gründliches Studium bei guten Lehrern. Einer dieser Lehrer, der aus Russland stammende Künstler Wladimir Kalistratow hat wohl einen entscheidenden Anteil an ihrer künstlerischen Entwicklung.

Die Reise geht weiter: Das Bild verdichtet sich. Linien, Flächen, bestimmte Formen entstehen. Dann kommen wohl Assoziationen ins Spiel: Erinnerungen an visuelle Erlebnisse. Das Geschehen bewegt sich jetzt in eine etwas eindeutigere Richtung. Anklänge an Landschaft, Figur, Stillleben werden deutlich.

Plötzlich geht es nicht mehr weiter. Sie muss das Bild vorübergehend beiseite stellen und an einem anderen weiterarbeiten. Irgendwann sieht sie dann aber, wie sie den Faden wieder aufnehmen kann. Teile des Bildes werden übermalt. Dazu muss sie Farben abkratzen oder mit Terpentin abwaschen, denn feuchte Ölfarbe lässt sich nicht übermalen. Der Bildaufbau verändert sich womöglich. Neue Assoziationen stellen sich ein. Eine weitere Ebene erscheint mit einer Horizontlinie. Landschaftliches deutet sich an. Dem geht sie nach. Beim Übermalen mit dem Malmesser, ihrem Lieblingsinstrument, lässt sie Reste der ursprünglichen Fassung durchscheinen. Und so entstehen feine Nuancen und die für sie typische ganz delikate Farbigkeit. Es gibt dann vielleicht einen Wechsel von deckender und transparenter Farbwirkung, von leuchtenden ungebrochenen Farben und dumpferen uns Graue oder Erdige gehenden Tönen.

Bei dem Bild auf der Einladungskarte sah sie womöglich oben rechts eine Form, die an ein Dach erinnert und setzt dann Fensterformen ins Bild. Jedoch bleibt das Ganze offen, uneindeutig, multiinterpretabel. Es
erinnert an Gebäude und Landschaft, bleibt aber ein abstraktes Bild, das man aber nicht etwa versteht, wenn man diese wenigen Hinweise wahrnimmt oder den Titel des Bildes erfährt, sondern wenn man die Struktur des Bildes sehend nachvollzieht und erlebt – die Wirkung der Farben, Formen, Flächen.

Sie werden verstehen, dass man sich ein solches Bildergebnis nicht vor Beginn der Arbeit vorstellen kann. Dann wäre übrigens das Malen ein langweiliger Akt. Das Malen ist aber ein Erlebnis, geradezu ein Abenteuer mit Überraschungen und Herausforderungen, ein Vorgang des Findens und Erfindens.

Ich weiß von Petra, dass sie für ihre Bilder oft mehrere Tage benötigt. Und eigentlich bräuchte man als Betrachter ebenfalls eine längere Zeit, um sich so ein Werk zu erschließen. Man sieht immer wieder in Ausstellungen Besucher mit einer Liste in der Hand von Bild zu Bild schreiten, den Titel lesen und dann entweder nicken oder den Kopf schütteln. Sie glauben das Bild zu verstehen, haben aber eigentlich nichts
gesehen. Das wäre genauso, als läse man von einer Erzählung nur die Überschrift, und glaubte, man könne sich dann den Text sparen. Immerhin kann es aber bei dieser flüchtigen Begegnung zu einer ersten
Anmutung kommen: Das Bild spricht mich irgendwie an, ich weiß nicht warum, aber etwas daran gefällt mir. Dann sollte man nach der Vernissage wiederkommen, um sich das Bild in Ruhe und intensiver anzuschauen. Dann könnte man vielleicht das Glück des Verstehens erfahren und obendrein etwas über den Sinn der Kunst lernen.

In der seit über hundert Jahren existierenden abstrakten Malerei gibt es Künstler wie Piet Mondrian, die mit drei reinen Farben (blau – rot – gelb) sowie senkrechten und waagerechten schwarzen Linien auskommen und es gibt eben solche wie Petra Ultsch, deren Bilder uns eine reiche poetische Erlebniswelt vor Augen führen. Petras Bilder haben auch eine Erzählebene, die über den bloßen gestalterischen Wert der Bildmittel hinausweist.

Petra Ultsch ist eine vielbelesene, weitgereiste und welterfahrene Künstlerin, deren menschliche Begegnungen und kulturelle wie auch landschaftliche Erlebnisse wohl zu ihrem reichen Bildschaffen
beigetragen haben mögen. Ich wünsche Ihnen nun eine anregende Zeit mit der Malerin und ihren Werken. Und lassen Sie es nicht mit dem heutigen Besuch bewenden.

Ich danke Ihnen für Ihre Geduld und Aufmerksamkeit.


Eckhardt Wendler — Holzwickeder Maler und Grafiker